Gebetskapelle
Das Buch des Lebens
Klosterkirche Lippoldsberg
Buch des Lebens
in der Gebetskapelle
Christen haben sich schon immer viel mit dem Tod befasst. Sie konnten das, weil sie letztlich keine Angst davor haben mussten. In den Klöstern des Mittelalters gab man dem Totengedenken Raum. Man schuf dafür eigens Seitenkapellen mit kleinen Altären.
Die Seitenkapelle im Nordosten der Kirche wurde auch im 20. Jh. wieder zu einer Stätte des Totengedenkens. Als Pfr. Martin Wörner aus dem Krieg nach Lippoldsberg kam, fand er etliche Fotos von Gefallenen und Gedenkaufrufe an den Säulen. Er erkannte das Bedürfnis der Angehörigen, die keinen Ort für ihre Trauer hatten, sammelte aber die Zettel ein und ließ die Namen der Gefallenen in einem Buch zusammenfassen.
Neben dem Buchständer wurde ein Kerzenständer in die Wand eingelassen, damit Angehörige, die Seite aufschlagen und ein Licht entzünden konnten. Dieser Kerzenträger hat eine eigentümliche Form: Wie eine Lanze durchbohrt er einen kleinen steinernen Drachen, der aus der Wand hervorkragt - Symbol für das Licht, das am Ende über alles Chaos triumphiert.
Inzwischen ist mehr als ein halbes Jahrhundert vergangen. Die Namen der Gefallenen haben längst einen eigenen Ort gefunden. Und die Seitenkapelle wird von den heutigen Menschen zur Andacht genutzt, die dort z.B. an ihre kürzlich Verstorbenen denken.
Der Kirchenvorstand hat deshalb beschlossen, das alte Buch fortzuschreiben. Das Gefallenenbuch verbleibt in der Kapelle, wurde aber fortgesetzt mit einem "Buch des Lebens", in dem alle Menschen verzeichnet sind, die seit 1945 in unserer Gemeinde gestorben sind.
Kirchenvorsteherin Christine Rölke hat dazu die Namen und Lebensdaten aus den Kirchenbüchern erfasst. Dabei konnten auf Wunsch von Angehörigen auch Menschen aufgenommen werden, die einer anderen Konfession angehören, sowie alle, deren Lebensschwerpunkt in Lippoldsberg lag, auch wenn sie dann letztlich an einem anderen Ort bestattet wurden.
Danach wurden alle Namen handschriftlich in das Buch übertragen, und zwar so, dass der Name den Raum zwischen Geburts- und Sterbedatum ausfüllt. Eine gewaltige Arbeit, die viel Konzentration erforderte. Denn es waren mehr als 1000 Namen in Schönschrift zu übertragen. Möglichst fehlerfrei, versteht sich, denn Korrekturen sind schwierig.
Ein bisschen mag sich die Schreiberin dabei vorgekommen sein wie die Nonnen des früheren Klosters, zu deren Hauptaufgaben das Kopieren von Handschriften gehörte. Auch künftig sollen die Namen und Lebensdaten der Verstorbenen jeweils bis zum Totensonntag in das Buch eingetragen werden. Sie werden dann auch aus diesem Buch verlesen.
Aber auch das Buch musste zunächst einmal hergestellt werden. Dass geschah in der Kasseler Buchbinderei Breidenbach. In Format, Material und Farbe orientiert sich das Buch am Vorgängerband.
Der Einband ist aus schwarzem Leder, der Seitenblock aus handgeschöpftem und - gerissenem Papier. Derzeit sind etwa die Hälfte der Seiten beschrieben, d.h. das Buch bietet insgesamt Platz für die Verstorbenen aus etwa 100 Jahren.
Auf dem Deckel des Buches wurden, ähnlich mittelalterlichen Evangeliaren, die vier Ecken mit Quadraten gefüllt. Die Anordnung der darin eingefassten Symbole ist nicht beliebig. In der vorgegebenen Anordnung lassen sie sich - wie unsere Schriftzeichen - von rechts nach links und von oben nach unten lesen:
Die Sanduhr verweist ganz an den Anfang der Schöpfung "Gott schied das Licht von der Finsternis und nannte das Licht Tag und die Finsternis Nacht. Da ward aus Abend und Morgen der erste Tag." (Gen 1,4-5). Die Zeit, die von Gott durch den Rhythmus von Licht und Finsternis geschaffen wird, ist eine Bedingung, der die ganze weitere Schöpfung unterworfen ist. Alles steht unter dem Gesetz der Vergänglichkeit.
Der Stern (Stern von Bethlehem) und das Kreuz (Kreuz von Golgatha) symbolisieren zunächst schlicht die Grenzen eines jeden menschlichen Lebens (* = Geburt/ + = Tod), das der Vergänglichkeit unterworfen ist. Als Symbole für Judentum und Christentum stehen sie aber auch für zwei historische Religionen, die unter den Bedingungen von Vergänglichkeit und Wandel entstanden sind, aber über sich selbst hinaus weisen, Wege zum ewigen Leben aufzeigen.
Die Ewigkeitsschleife ∞ weist auf das Ende der Zeit hin, wie es vor allem im letzten Buch der Bibel, in der Offenbarung geschildert wird, oder auf das Reich Gottes, von dem Jesus erzählt. Juden und Christen stellen sich vor, dass zwar ihr Leben in dieser Welt vergeht, aber in Gottes Reich aufgehoben bleibt: "Meine Zeit steht in deinen Händen." (Ps 31,16)
Das zentrale Symbol aber sind die Wort in der Mitte: "Buch des Lebens".
Eine Vorstellung, die so alt ist wie die Schriftreligionen.
Sie klingt im 139. Psalm an:
"Alle Tage waren in dein Buch geschrieben,
die noch werden sollten und von denen keiner da war."
Jesus sagt (Lk 10,20):
Freut euch darüber, dass eure Namen im Himmel geschrieben sind.
Und im letzten Buch der Bibel, in der Offenbarung heißt es (Offb 3,5):
Wer überwindet, der soll mit weißen Kleidern angetan werden,
und ich werde seinen Namen nicht austilgen aus dem Buch des Lebens...
Hinter all dem steht die Vorstellung, dass es im Himmel ein Buch gibt, in dem eine unvergängliche Erinnerung aufgezeichnet ist. Namen sind nicht Schall und Rauch, in den Namen liegt ein großer Zauber. In einem Namen liegt etwas von der Person selbst.
Wie soll man sich dieses himmlische Buch des Lebens vorstellen? Und wie verhält sich dazu das Buch auf dem Altar?
Klosterkirche Lippoldsberg
Gebetskapelle - Buch des Lebens
Unser "Buch des Lebens" ist ein Denkmal, eine sichtbar gewordene Erinnerung. Und das es hier öffentlich in der Kirche ausliegt ist auch eine Entlastung für die Angehörigen. Denn es liegt nicht nur an ihnen, ob die Erinnerung an ihren Verstorbenen fortlebt.
Die Erinnerung bleibt hier aufgehoben, auch wenn vielleicht der Grabstein auf dem Friedhof längst wieder verschwunden ist. Und selbst wenn dieses Buch - was Gott verhüten möge - abhanden käme, bleibt der Name im Gedächtnis Gottes.
Denn kein Mensch verschwindet spurlos aus dieser Welt. Jeder prägt und verändert diese Welt und die Menschen. Das ist das eigentliche "Buch des Lebens".
Und auch wenn dieses Buch für uns mit der Zeit unleserlich wird, wenn sich die vielen kleinen Spuren vor unseren Augen verwischen. Im Gedächtnis Gottes bleiben sie bestehen.