Stühle und Bänke - Sitzen
Während die Menschen anderer Kulturen sich meist auf dem Boden kauern, ist für das westliche Abendland das Sitzen auf Stühlen selbstverständlich geworden.
Vertreter der östlichen Religionen, die aus dem rechten geerdeten Sitzen eine asketische Übung gemacht haben, kritisieren unsere Grundhaltung als ein "Hängen". Und Orthopäden geben ihnen recht. Unsere schlechte Körperhaltung führt bei vielen Menschen zu nachhaltigen Rückenschäden.
Insbesondere romanische Kunstwerke zeigen, dass es auch im christlichen Abendland einmal eine weisere Kultur des Sitzens gab. In den Darstellungen des thronenden Weltenherrschers wird Christus im Habitus eines in seiner Mitte ruhenden, selbstbestimmten Menschen gezeigt.
Thronender Christus
Lippoldsberger Evangeliar
Hängender Intellektueller
Die antike römische Basilika, die das Modell für christliche Großkirchen abgab, war eine Wandelhalle für Markt- und Gerichtszwecke. Die Menschen bewegten sich oder standen im Raum.
Einen festen Sitz gab es nur in der Apsis für den Kaiser bzw. dessen Stellvertreter. Es war Ausdruck seiner souverän in sich ruhenden Machtvollkommenheit, dass er gelassen sitzen konnte, während alle anderen sich auf ihn hin bewegen mussten.
Aachener Dom - Königsthron
In der zum christlichen Sakralbau gewandelten Basilika war es nicht der Kaiser, sondern Christus, der den Raum beherrschte. Sein (Brust-)Bild füllte das Halbrund des Apsisgewölbes, während sein Körper in Gestalt eines Stellvertreters, des leitenden Priesters, den darunter liegenden Sitz (Kathedra) einnahm.
Der Sitz des Bischofs hatte eine so herausgehobene Stellung, dass er zum Symbol des Bischofsamtes selbst wurde. "Kathedrale" nennt man eine Kirche, an der ein Bischofssitz ist.
Die Kathedra des Bischofs war ursprünglich ein beweglicher aus Holz gefertigter Sitz, der links und recht von Priestersitzen (Sedilien) umgeben war.
Klosterkirche Lippoldsberg - Dreisitz
In Lippoldsberg haben wir einen solcher Dreisitz nachempfunden. Er befindet sich in der Sakristeikapelle, die der Vorbereitung der liturgisch Handelnden dient. Der zentrale Stuhl ist nach mittelalterlichem Vorbild gestaltet, die begleitenden Sitze entsprechen dem klassisch-modernen Ulmer Hocker. Alle Sitze sind ohne Rückenlehne, um eine aktive Sitzhaltung zu fördern, wie sie der persönlichen Meditation angemessen ist.
Mittelalterlicher Sitz
Im gottesdienstlichen Vollzug selbst nehmen die liturgisch Handelnden in Lippoldsberg keine besonderen Plätze ein. Lediglich Brautpaare sitzen bei ihrer Trauung auf zwei der klappbaren Throne, um ihre priesterliche Bedeutung füreinander symbolisch hervorzuheben.
Der Pfarrer, die Kirchenvorsteher usw. hingegen treten jeweils aus den Kirchenbänken heraus, wie es dem evangelischen Verständnis des allgemeinen Priestertums aller Gläubigen entspricht.
Das Aufkommen von Kirchenbänken im Spätmittelalter ist jedoch nicht als eine Ausweitung der Priestersitze zu verstehen. Hier macht sich eine andere Tradition des Sitzens bemerkbar, die aus den Klosterkirchen hervorgegangen ist.
Benedikt von Nursia hatte mit dem seiner Regel zugrunde liegenden Prinzip der "stabilitas loci" eine sesshafte Kultur geschaffen. Die Mönche und Nonnen waren gleichsam eingebaut in ein festes Gefüge von Regeln. Seinen Ausdruck fand das unter anderm im Chorgestühl, wo die Konventualen sich einander gegenübersitzend als Gemeinschaft erlebten, versammelt um einen verbindenden Freiraum in der Mitte: Gott.
Das klösterliche Modell wurde mit den Kirchenbänken auf die weltliche Ordnung übertragen. Das feste Gestühl wurde zum Spiegel einer ständisch gegliederten Gemeinschaft, in der jeder seinen festgefügten Platz einnahm.
Klosterkirche Lippoldsberg - Emporenarkaden
Man kann sich nicht plastisch genug vorstellen, wir sehr sich durch das Aufkommen von Kirchenbänken im Spätmittelalter das Raumkonzept, aber auch der Gottesdienst gewandelt hat. War das Kirchenschiff früher frei begehbar, wurde der größte Teil des Raumes durch den Einbau des massiven Gestühls blockiert und der Ort der Gemeinde fixiert.
Wie empfindlich die baulichen Proportionen dabei gestört wurden, kann man in Lippoldsberg immer wieder erleben, wenn nach Großveranstaltungen durch Zur-Seite-Räumen der letzten vier Bankreihen der Blick auf die Emporen-Arkaden wieder vollständig frei wird.
Durch die Einführung der Kirchenbänke hat sich auch die gottesdienstliche Feier verändert, so dass Manfred Josuttis hier von der tiefgreifensten liturgische Neuerung des 2. Jahrtausends spricht. Wurden früher Feste "begangen" oder getanzt, so tanzt heute meist nur noch das Wort. Die Liturgie hat sich von den Füßen in den Kopf verlagert.
Klosterkirche Lippoldsberg - Kirchenbänke
Kritische Anfragen an unsere wortzentrierten Gottesdienste und die Suche nach "ganzheitlicheren" Formen des Feierns führen dazu, dass das feste Kirchengestühl zunehmend als Hindernis empfunden und in Frage gestellt wird. Auch dass die Gemeinde durch die geschlossenen Bankreihen als gleichgerichtete Gemeinschaft dargestellt wird, entspricht nicht mehr der sozialen Realität und ist als Ideal fragwürdig geworden.
Andererseits sollte man die Bänke unangetastet lassen, solange nicht wirklich substanzielle liturgische Alternativen gefunden wurden. Zum einen haben viele Gemeindeglieder eine vertraute Beziehung zu ihrer Bank, so dass sie Eingriffe in diesem Bereich als gewaltsam erleben. Zum anderen sprechen bei nachmittelalterlichen Kirchen denkmalpflegerische Gründe gegen eine Entfernung der Bänke, weil sie genuiner Bestandteil des Raumkonzepts sind.
Literaturhinweis: Hajo Eickhoff: Himmelsthron und Schaukelstuhl. Die Geschichte des Sitzens. München/Wien (Hanser) 1993.