Lippoldsberger Evangeliar
Einführung Fritz Häberlein 1932
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Technik der Malerei
Tempera, mit lebhafter Benutzung von Metallfarben auf braunfirnis-ähnlichen Untermalungen. Hochpolierte Goldgründe auf Assisso. Die Vorzeichnungen sind in Minium und mechanisch hergestellt.
Stil
Die hohe Qualität der Illuminationen in Bezug auf künstlerisches Vermögen wie auf handwerkliches Können offenbart eine hervorragende Werkstatt, die mit Goldschmiedearbeiten eng vertraut war. Besonders bezeichnend dafür ist die technische Besonderheit, neben leuchtenden Farben und hochpolierter Blattvergoldung auf Assisso, "Metallmalerei" (Gold-Silber-Filigranierung auf Harzgrund) für kultisch dekorative Zwecke zu verwenden. Die Gesamtleistung ist einheitlich, doch lassen sich verschiedene ausführende Hände unterscheiden.
Im Ganzen ist eine Erweichung archaisch-romanischer Monumentalität durch einen Klassizismus sächsisch-ottonischer Kunstübung zu beobachten. Ein strenger romanischer Stil (Symmetrie im Bildbau, Figurenaxialität, mosaikhaft-dekorative Farbanordnung) mischt sich mit klassizistischen Elementen (Schönlinigkeit, Proprotion des Goldenen Schnittes, Figurentypus, Harmonie innerhalb der Farbabstufungen), ohne dass irgend eine Annäherung an Frühgotik oder Byzantismus sich ergäbe.
Szenen und Farben
In den großen Szenen der 1. Gruppe (Geburt, Anbetung, Himmelfahrt, Pfingstfest, Matthäus) sind die Figuren sehr menschlich, scheu, zart, elegant in Haltung, Bewegung (dünne, fließende Konturen, in sanftem Rhythmus bewegte Figuren, kostbare, flach sich anschmiegende Gewänder). Die gefelderten Bildgründe (gemalte Matrizen in Blau-Grün) wirken weich, sind oft überschnitten und darum ohne besonderen Zwang in ihrer Wirkung gegenüber den Figuren.
Die Färbung des Ganzen unterstützt solche Wirkung. Ein blonder Farbeneindruck von Gold, Himmelblau, Mattgrün, Pastellrosa gibt die Stimmung. Sind auch die Einzeltöne Blau, Grün, Rot, Ocker für sich genommen von romanischem Charakter, bunt, additiv, dekorierend, hellklar, so wird dennoch in der Bildzusammenstellung eine wohltuende Harmonie erstrebt.
Die Malerei ist, ohne die Pinselsprache zu zeigen, flächig; Faltenbewegungen sind meist mit durchsichtiger Gummilineatur graphisch ausgedrückt. Der rührende Reiz der bedeutsamsten Darstellungen (Geburt, Anbetung, Himmelfahrt) beruht auf solcher Feinfühligkeit. Dasselbe gilt ähnlich für Pfingstfest, Matthäus, Initial "L".
Der Übergang zu einer 2. Bildergruppe liegt in der Taufszene: hier herrscht das Formengefühl der 1. Gruppe mit Ausnahme der Einzelheiten der Gesichter, ebenso der Farbstil dieser Gruppe mit Ausnahme des hartbunten Bildgrundes, der sich über Gebühr hervordrängt.
Die 2. Gruppe zeigt Figuren von gedrungenerem, axial gerichteten Körperbau, repräsentativ-betonten Gesichtern (hl. Georg, Christus als Weltenrichter). Die Einzelformen in den Gesichtern erscheinen übergroß, dadurch expressiv, nicht verträumt wie die Antlitze der Heiligen in der ersten Gruppe. Die Faltengebung zeigt lebhafte barocke Draperie (Faltentäler, aufgebauschte Gewänder). Die Pinselführung ist malerisch unruhig, die Farbformen zeigen eine übereinandergemalte, lebhafte Harz-Temperatechnik (Nass- in Nasswirkung). Derb und hart stoßen sich im Bild die Farbflächen; Kirschrot und das Blau-Grün der Gründe, die wohl denen der 1. Gruppe entsprechen, drängen sich hier jedoch bestimmend in die Bildwirkung ein, die edle "Goldschmiededekoration" tritt fast ganz zurück. Den Bildbau beherrscht ohne jede Erweichung eine geometrisch strenge Symmetrie.
Die Meister
Der erste (bedeutenste) Meister, der Meister der Anbetung wird für die Bildgruppe "Geburt Christi bis "Jüngstes Gericht" und die Vorzeichnung für "Kreis der Heiligen" verantwortlich sein; der zweite Meister, der Meister des Dedikationsbildes, für die im Fundament immer streng romanische, in der malerischen Ausführung des Szenenapparates barock bewegte Szenenfolge "Kreis der Heiligen" bis "Canonestafeln" einschließlich; dieser wird also das Werk vollendet haben, das er aus der ersten Hand übernommen hat. Gehilfen, an Können schwächer, unterstützen beide. Ihre Arbeiten sind: "Geburt Christi" und "Matthaeus".
Die untere Bildhälfte der Himmelfahrt ist Werkstattarbeit des 1. Meisters. "Verkündigung", "Jüngstes Gericht", "Marcus" und "Lucas" Werkstattarbeit des 2. Meisters. Alle Illuminationen sind in ununterbrochener Arbeit einer Werkstatt entstanden. Sie muss dort gearbeitet haben, wo diejenigen Stileinflüsse münden, die das besondere Wesen im Stil der Malerei verständlich machen.
Stilelemente
Folgende Stilelemente sind zu unterscheiden: Klassizistische Erweichung und Harmonisierung gegenüber romanischer Strenge mit Mitteln, die auf ottonische Tradition im 11. Jahrhundert zurückgreifen; formale, farbige Stilelemente, die dem niederrheinischen Kunstkreis entstammen, aber hier im Evangeliar nur materielle Bedeutung haben, die geistige Haltung nicht betreffen (großflächige Matrizengründe der Szenen; Faltenmotive; auf Blau gegründete Farbigkeit; Grün-Kirschrot; florale Ornamentik; Ikonographie); die eigenartige Kunstübung metallverbrämter Malerei, die in solcher Prägnanz handfertigbodenständig nur im Weserkloster Helmarshausen verständlich ist, dessen Goldschmiedetradition und dessen später ottonische Haltung bekannt ist.
Einflüsse aus Hildesheim sind zu erkennen in der sächsischen Gepflegtheit der formalen und farbigen Werte, die selbst in hochromanischer Zeit dort vorhanden war. Besonders die Herkunft des Hardehäuser Evangeliars aus Lippoldsberg, das dich bei Helmarshausen liegt, und vor allem die Verwandtschaft mit dem von Hermann von Helmarshausen geschriebenen Evangeliar und Psalter Heinrich des Löwen macht die Lokalisierung der Werkstatt in Helmarshausen so gut wie sicher.